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Das weiße Band am Apfelbaum

Einmal saß ich während einer Bahnfahrt neben einem jungen Mann, dem sichtlich etwas Schweres auf dem Herzen lastete. Schließlich erzählte der mir, dass er psychisch erkrankt sei und sich deshalb in stationäre Behandlung begeben musste. Nun, nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus, war er auf der Fahrt nach Hause, in seine Heimatstadt.
Seine psychische Erkrankung hatte große Verunsicherung ausgelöst in seiner Familie, in seinem Freundeskreis und an seinem Arbeitsplatz. Anfangs hatte man ihn im Krankenhaus besucht, doch die Besuche waren immer weniger geworden, ebenso die Briefe, die ihn von zu Hause erreichten.
Er hoffte aber trotzdem, dass man ihn daheim herzlich aufnehmen würde. Um es allen leichter zu machen, hatte er ihnen in einem Brief vorgeschlagen, sie sollten ihm ein Zeichen geben, an dem er, an seiner Heimatstadt vorbeifuhr, sofort erkennen könne, wie sie zu ihm ständen.
War er willkommen, so sollten sie an dem Apfelbaum an der Bahnstrecke ein weißes Band anbringen. Wenn sie ihn aber nicht daheim haben wollten, sollten sie gar nichts tun. Dann würde er im Zug bleiben und weiterfahren, weit weg – Gott weiß, wohin.
Als der Zug sich seiner Heimatstadt näherte, wurde seine Spannung so groß, dass er es nicht über sich brachte, aus dem Fenster zu schauen. Ich tauschte den Platz mit ihm und versprach, auf den Apfelbaum zu achten.
Gleich darauf legte ich dem jungen Mann die Hand auf den Arm. „Da ist er“, flüsterte ich, und Tränen standen mir in den Augen. „Alles in Ordnung. Der ganze Baum ist voller weißer Bänder und sie kommen aus allen Richtungen der Stadt, um weitere anzubringen.“

Text in Anlehnung an eine gleichnamige Geschichte von John Karl Logemann